Rockoper Tommy von The Who: taub, stumm und blind

Bestimmt habt ihr alle schon von The Who gehört!

The Who – wer? Also gut, wer sie nicht kennt: eine britische Rockband aus dem gloriosen Zeitalter der Sechziger und Siebziger Jahre. Ihre bekanntesten Hits sind Baba O´Riley, Behind Blue Eyes, My Generation und natürlich Pinball Wizard, ein Song vom Rockoper-Konzeptalbum „Tommy“.

Als Kind fand ich dieses Album in der Sammlung meines Vaters, und so begann meine Liebe zu The Who – und meine Begeisterung für speziell dieses Album und die Geschichte von Tommy hält bis heute an! Daher darf ein Blick in die Welt von Tommy auf meinem Musik Blog nicht fehlen.

Was ist eine Rockoper?

Jeder hat wohl eine grobe Vorstellung davon, was eine Oper ist – eine Geschichte erzählt in Form von Gesang, der zwar nur von professionellen Sängern gemeistert werden kann, der jedoch für die meisten Ohren nicht besonders schön oder verständlich ist. Und eine Rockoper? Eben auch eine Geschichte erzählt durch Musik, allerdings coole Rockmusik!

Genau das ist Tommy, ein Konzeptalbum, was auch Rockoper genannt wird, sofern das verbindende Element die erzählte Geschichte ist (es kann auch etwas anderes sein). Die einzelnen Songs sind thematisch mit einander in Beziehung und Teil des Albums als Gesamtkunstwerks. Man muss sich das ganze Album in der richtigen Reihenfolge anhören, um die Geschichte Kapitel für Kapitel in form von Liedtexten erzählt zu bekommen. Andere berühmte Konzeptalben sind: „The Wall“ von Pink Floyd und „Sgt. Pepper´s Lonely Hearts Club Band“ von den Beatles. Auch von The Who gibt es ein weiteres Konzeptalbum mit zusammenhängender Handlung: „Quadrophenia“.

Die Macht der Verdrängung

“Tommy” beginnt mit der Geburt des britischen Jungen Tommy Walker während des ersten Weltkriegs. Seine Geschichte nimmt früh eine tragische und entscheidende Wendung: er sieht als Kleinkind mit an, wie sein vom Krieg heimkehrender Vater den Geliebten der Mutter tötet. Als einzigem Zeugen wird ihm von seinen Eltern eingebläut, dass er nichts gesehen und nichts gehört hat und nichts sagen wird. Als Folge dieses psychologischen Traumas wird Tommy taub, stumm und blind.

Ist das nicht faszinierend – was geht nur in einem Kind vor, welches taub, stumm und blind aufwächst? Welche Auswirkungen hat dies auf die Entwicklung der Persönlichkeit? Und da Tommys Sinnesorgane an sich gesund sind, liegt die Ursache rein in der Psyche, im Trauma – als eine Form von Selbstschutz blockiert der Tommys Geist die Außenwelt aus – völlige Verdrängung. Kann Tommy geholfen werden, bzw. sich selbst helfen?

Tommy ist der Pinball Wizard – der Flipper-Weltmeister

Als ob die Geschichte nicht schon tragisch genug wäre, wird im Verlauf von Tommys Geschichte gezeigt, was so oft Teil der Qual von Schwachen, Verletzen und Behinderten ist: sie werden weiter ausgenutzt und erniedrigt. Tommy wird unter anderem Opfer von Mobbing in der Schule und Kindesmissbrauch seitens seines Onkels, was weiterhin zu seinem Trauma und seiner Isolierung beträgt. Die Eltern werden zunehmend verzweifelt, hilflos und frustriert und versuchen, ihn mit obskuren Methoden zu heilen. Das einzige, was für Tommy auf wundersame Weise klappt, ist das Spielen am Flipperautomaten, indem er gefeierter Weltmeister wird.

Wunderheilung und die Falle der Berühmtheit

Die große Wende kommt, als Tommys Mutter den Spiegel zerschmettert, in den Tommy – inzwischen ein junger Mann – dauerhaft „starrt“. Tommy, durch seine Flipperspielerei bereits berühmt, wird nach seiner „Wunderheilung“ zu einer Art Messias ernannt und eine riesige Menge von Anhängern bereiten ihm wieder eine andere Form von psychologischem Stress und Trauma. Die Menschenmassen stellen hohe Erwartungen an ihn und drängen ihn in die Rolle eines kommerziellen Superstars, was er eigentlich gar nicht will, denn er ist durch seine Jahre der sensoriellen Isolierung sehr weise geworden. Als er sich wehrt, lassen ihn seine enttäuschten Anhänger fallen.

“Tommy“ steckt voller Metaphern, humorvoller Kritik und Symbolik

👉 Der Name Tommy galt als Umgangssprachlicher Überbegriff für die englischen Soldaten im ersten Weltkrieg – somit bekommt Tommys Trauma eine tiefere Bedeutung als Symbol für eine ganze traumatisierte Generation.

👉 „Acid Queen“ prangert subtil den leichtfertigen und experimentellen Umgang mit psychedelischen Drogen an.

👉 „Sally Simpson“ und “Tommys Holiday Camp” kritisieren die übertriebene Ausübung von Kults und die egoistischen, zum Teil gewalttätigen Handlungen von Fans, die es einfach übertreiben und keine Rücksicht auf das Objekt ihrer Anbetung nehmen – sozusagen vergessen, dass es sich bei Künstlern immer noch um Menschen handelt.

👉 „We´re not gonna take it” illustriert ebenfalls die Schattenseite von Berühmtheit, zeigt, wie wankelmütig und unfair sich Fans ihren Idolen gegenüber verhalten, und wie wenig Ruhm und Erfolg letztendlich wert sind.

👉 “Cousin Kevin”, “Fiddle About” und “Smash the Mirror” heben hervor, wie psychologisch Geschwächte durch soziales Umfeld und Familie oft noch weiter gequält werden, anstelle von echter Unterstützung und Hilfe. Sogar wohlmeinende Handlungen sind in ihrer Essenz oft egoistisch – wieder wird dem Traumatisierten fast schon seine Menschlichkeit aberkannt.

👉 In seiner Welt ohne Hören, Sehen und Reden gibt es für Tommy hauptsächlich Vibrationen, als Symbol für Musik gemeint.

… und es steckt noch viel mehr drin, aber ich komme hier erstmal zum Ende meiner kleinen Vorstellung.

„Tommy“ ist ein Album, wie es 1969 noch nie eines gegeben hatte und daher läutete es sozusagen eine kleine Revolution ein und katapultierte The Who und andere progressive Rockbands zum Erfolg. Könnt ihr glauben, dass „Tommy“ nun schon mehr als 50 Jahre alt ist, und immer noch so tiefgründig-witzig, schräg-kritisch, symbolisch relevant?

PS: Zu „Tommy“ gibt es auch als Musical, Ballett und abgefahrenen Spielfilm mit vielen Musikern in den Hauptrollen!